Die Geburt! Ein Wunder in jedem Fall, doch ist nicht jede gleich. Annemarie Stoltenberg hat in diesem schön aufgemachten und von Amarins de Jong illustrierten Buch, Texte von verschiedenster Autor:innen gesammelt. Klassiker:innen wie Friedrich Hebbel, Thomas Mann, Isodora Duncan, Käthe Kruse sind ebenso zu finden, wie moderne Schriftsteller:innen wie Levi Henriksen, dessen Geschichten immer eine Freude sind, Fréderik Schwilden und die vielfach ausgezeichnete irische Autorin Elís Ní Dhuibhne, die ihre Geschichte Hebamme für die Feen beigesteuert hat, in der sie die moderne Erzählung mit Märchenelementen vermischt.
Es ist nicht nur ein passendes Geschenk für werdende Eltern oder Großeltern, sondern eigentlich für alle die Geschichten schätzen. Die Geburt ist und bleibt, trotz aller medizinischen Erklärungen, ein Mysterium und berührt jeden.
Wenn ein neues Leben beginnt Herausg: Annemarie Stoltenberg Illustrationen: Amarins de Jong Verlag: Reclam ISBN: 978-3-15-011477-3 Preis: 22,00 €
Seit 1976 ist Ralf Sotscheck in Nordirland. Zuerst ist er Aushilfslehrer in Belfast, später schreibt er Reportagen über das Land und die Geschehnisse für die TAZ, denn es ist die Hochzeit des Nordirlandkonfliktes. Anschläge der IRA, brutales Vorgehen der Briten. Alleine 1976 sterben 300 Menschen in diesem Konflikt. Nun könnte man sich fragen, ja sicher, alles schlimm, aber warum die alten Reportagen noch einmal als Buch herausbringen, das ist doch vorbei. Tja, schön wäre es. Doch durch den Brexit könnte die schlimme alte Zeit wieder aufleben. Jetzt trennt Nordirland und die Republik Irland eine offene Grenze, die nun wieder zu einer geschlossenen werden könnte. Es gibt Dörfer, die sich direkt auf dieser Grenze befinden, Pendler, die nun wieder lange Grenzkontrollen über sich ergehen lassen müssen. Es ist also nicht auszuschließen, dass die Unabhängigkeitsbewegung eine Renaissance erlebt und das die blutigen Auseinandersetzungen wieder auflegen. Mit anderen Worten, das Buch passt in die Zeit und wird hoffentlich viele Leser finden.
Nordirland - Zwischen Bloody Sunday und Brexit
Autor: Ralf Sotscheck
Verlag Reiffer
ISBN 978-3-910335-98-1
Preis: 18,00 €
Denise Bachmann wartet auf ihren Mann Robin. Doch Robin kommt nicht nach Hause. Nach Tagen der Ungewissheit ist klar, er wird nie mehr nach Hause kommen, denn seine Leiche wurde aus der Oker gefischt. Während die Behörden von Suizid oder Unfall augehen, ist Denise überzeugt, dass Robin ermordet wurde und beschließt etwas zu unternehmen. Sie will den Täter anlocken, dazu macht sie Fotos von sich an einsamen Orten im Dunkeln und lässt über ihre Social Media Kanäle verlauten, dass sie weiß, dass Robin ermordet wurde. Der Flussmann reagiert entsprechend.
Hardy Crueger hat der Oker bereits mit seinen Okergeschichten eine Hommage erwiesen und legt nun mit Der Flussmann nach. Nicht nur ist die Geschichte gut recherchiert was Gegend, Polizeiarbeit und Wasserleichen betrifft, sie ist auch einfühlsam erzählt. Kummer, Angst und Wut der Protagonistin sind nahezu greifbar. Doch nicht nur die Hauptfigur hat Farbe, sondern auch die Nebenfiguren und der Täter haben Tiefe.
Denise ist ein Kind unserer Zeit, sie hat das Smartphone immer in Reichweite, ist auf allen Kanälen präsent und nutzt diese, um den Mörder ihres Mannes anzulocken, doch der Autor zeigt auch die Schattenseiten, so einer dauernden Medienpräsenz. Der Flussmann ist ein Thriller der guten Art, keine billige Effekthascherei, sondern spannend und ein absolutes Lesevergnügen.
Für Lance und seine Freunde geht es ins Ferienlager nach Crater Lake. Das Lager ist neu entstanden und schon die Ankunft ist dubios. Denn schon am Tor kommt ihnen ein blutüberströmter Mann entgegen. Zum Essen gibt es nur Tomatensuppe und überhaupt scheint man nicht so viel davon zu wissen, was Kinder eigentlich brauchen. Als Lance und seine Freunde ein Mitternachtspicknick in seinem Zimmer veranstalten, stellen sie fest, dass mit ihren Klassenkameraden, die brav schlafen gegangen sind, eine merkwürdigt Veränderung geschehen ist. Die haben nun Wespenaugen und verlassen wie Zombies das Haus und auch die Lehrerin scheint nicht so wirklich menschlich zu sein. Schnell bekommt die Lance-Clique heraus, dass die Verwandlung nur eintreten kann, wenn sie einschlafen. Sie halten sich also wach und versuchen herauszubekommen, was in Camp Crater Lake vorgeht …und wie wichtig es ist einander zu vertrauen.
Ein schönes Jugendbuch mit Abenteuer, Spannung, genügend persönlicher Probleme und unterschiedlicher Charaktere. Liest sich gut und hat auch mir, einem etwas älterem Kind viel Spaß gemacht. Jedenfalls freue ich mich bereits auf den 2. Teil.
Die Leute vom Hellemyr gilt als das Hauptwerk der norwegischen Schriftstellerin Amalie Skram (1846 – 1905). Der Band 1: Sjur Gabriel, wurde 1887 erstmals veröffentlicht. Dieser Band wurde von Christel Hildebrandt übersetzt
Sjur Gabriel, seine Frau Oline und deren zahlreiche Kinderschar leben auf dem Hof Hellemyr, Felsenmoor, bei Bergen, es ist ein karges Leben. Die Familie hält sich mit Landwirtschaft und etwas Fischerei gerade so über Wasser. Während Sjur Gabriel stur und verbissen weitermacht, flüchtet sich Oline immer wieder in den Alkohol, was in der Regel Gewaltausbrüche Sjur Gabriels nach sich zieht. Als das jüngste Kind der beiden stirbt, zerbricht auch Sjur Gabriel. Der erste Band endet mit den Worten:
In Band 2 überspringt Amalie Skram eine Generation, auch wenn die Kinder von Oline und Sjur Gabriel kurz vorkommen. Der Protagonist ist der Enkel Sievert Jensen, der, 16-jährig, arg darunter leidet, dass seine Großeltern als Trinker verschrieen sind. Besonders seine besoffen durch die Stadt torkelnde Großmutter, der eine Horde sie verspottender Kinder folgt, macht ihm das Leben in Bergen zu Hölle. Er beschließt, gegen den Willen seiner Eltern, zur See zu gehen und heuert als Moses auf der Zwei Freunde an. Die Reise geht nach Kingston und zurück. Band 2 wurde von Nora Pröfrock übersetzt.
Der erste und der zweite Band lassen sich gut unabhängig von einander lesen. „Zwei Freunde“ ist ein Seefahrtsroman, in dem die Autorin sicher eigene Erlebnisse verarbeitet hat. Sie wurde mit 19 mit einem sehr viel älteren Kapitän verheiratet, der sie mit auf Fahrt nahm. Sievert, der Moses, hat es nicht leicht auf der Zwei Freunde. Als jüngster hat er die Dreckarbeit und den Spott der älteren Mannschaftsmitglieder zu ertragen, doch er beißt sich durch und kommt recht gut zurecht. Leider ist Sievert einer der, sowie er Gutes erreicht hat, dieses durch Lügen und kleine Diebstähle wieder zerstört. Auf der Heimfahrt gerät das Schiff in Seenot, die Mannschaft überlebt knapp und Sievert gibt die Seefahrt auf.
In Band 3: S. G. Myre übersetzt von Christel Hildebrandt, wird Sieverts Geschichte weiter erzählt und wir lernen Petra Frimann, die Tochter des versoffenen Gerichtsboten, sowie die feine Gesellschaft von Bergen kennen. Sievert hat eine Anstellung im Kontor des Kaufmanns Munthe und als Faktotum in dessen Privathaus gefunden, er ist fleißig, seine Arbeit wird geschätzt und er hätte dort ein gutes Auskommen, wenn er sich nicht der Tochter des Hauses, Lydia, Munthe genähert hätte. Lydia kommt nach Hamburg ins Internat und Sievert verliert seine Stellung. Kurz bevor er meint, vor die Hunde zu gehen, findet er eine neue Anstellung bei einem Händler und verliert auch diese wieder, durch seine Mauscheleien. Petra Frimann widerum wird Hauswirtschafterin bei Konsul Smith und dessen gehbehinderter Frau. Petra ist schön und der Konsul ein charmanter Schwerenöter. Er verführt Petra, die sich mit der Zeit einbildet, nach dem Tod der Konsulin, von ihm geheiratet zu werden. Natürlich hat er nichts dergleichen im Sinn, sondern ermutigt Petra Sievert Jensen zu heiraten und erklärt sich bereit dem Paar großzügige Unterstützung bei ihrer Etablierung zuteil werden zu lassen. Sievert, der mittlerweile bei Smith arbeit, ist begeistert, denn er ist verliebt in Petra, die ihn nur widerwillig nimmt. Sievert ändert seinen Nachnamen in Myre, um endlich jede Verbindung zu der verschrienen Familie Jensen vom Hellemyr zu kappen.
Das Nachwort zu diesem Teil stammt von Gunnar Staalesn.
Band 4: Die nächste Generation wurde von Gabriele Haefs übersetzt:
Hier liegt der Fokus auf den Kindern der Familie Myre und Smith. Die Ehe von Petra und Sievert ist alles andere als ein Erfolg. Petra ist verbittert und lässt ihren Frust an den Kindern aus. Besonders Sofie und Serverin, die älteren der Geschwister leiden unter dem Geiz und den Gewaltausbrüchen der Mutter. Severin wiederum ist mit Hendrik dem Sohn Konsuls Smith und seiner zweiten Frau Lydia Munthe, eng befreundet und doch in der Schule ein Außenseiter. Der Musterstängel, der es nicht erwarten kann, auf die Universität zu gehen und dem Elend zu Hause zu entfliehen. Sievert hingegen hat es wiedereinmal geschafft, sein Geschäft durch gewagte Spekulationen zu ruinieren und landet schließlich wegen Betrug im Gefängnis, wo er auch stirbt.
Amalie Skram hat mit den Leuten vom Hellemyr ein Gesellschaftsbild Bergens im 19. Jahrhundert geschaffen. Vieles was sie beschreibt, entstammt eigenem Erleben. Amalie Skrams Vater hatte die Familie, nach dem sein Geschäft bankrott war, verlassen und sich nach Amerika abgesetzt. Amalie wurde mit einem älteren ungeliebten Mann verheiratet, um die Familie zu sanieren, wie es auch im vierten Band Sofie Myre geschieht. Neben der Unüberwindbarkeit der Klassenunterschiede ist immer wieder die Situationen der Frauen, ihre relative Rechtlosigkeit und Unfreiheit, Thema im Werk dieser Autorin. Die Leute von Hellemyr spielt im 19. Jahrhundert und liest sich doch so heutig und aktuell. 1200 Seiten und keine davon zuviel. Im Gegenteil, es wäre schön gewesen, hätte die Autorin es noch geschafft, den angedachten 5. Teil zu schreiben.
Ein großes Lob hier auch an die Übersetzerinnen. Im Orignal verwendet die Autorin viel den Arbeiterdialekt, wie er in Bergen des 19. Jahrhundert gesprochen wurde. Dialekt zu übersetzen ist immer schwer, doch hier ist es brilliant gelungen.
Die Leute vom Hellemyr Band 1 - 4
Autorin: Amalie Skram
Übersetzerinnen: Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock und Gabriele Hafs
Nachwort in Band 3: Gunnar Staalesen
Verlag: Guggolz
Preis: 69,00 €
Die Welt wird brüchig in Dietrich Brüggemanns Materialermüdung. Als Jakob und Maja von Jakobs Vater aus dessen Garten verbannt werden, merken sie noch nichts davon. Sie beschließen kurzer Hand ihren besten Freund Moses anzurufen und einen Kurzurlaub in Ueckermünde anzulegen. Dort wird ein Baum vom Blitz getroffen und der schleichende Prozess der Auflösung setzt. Alles ist betroffen, Fahrräder, Autos, Beziehungen, Knochen, bis die Welt schließlich in einem weißen Loch in Flammen vergeht. Doch erst einmal sie die drei, der hippen Kunstszene zugehörigen Freunde, damit beschäftigt, um sich selbst zu kreisen. Es werden Befindlichkeiten gepflegt, Moses erfährt Rufmord durch das Internet. Maya fragt sich, ob ihre Beziehung zu Jakob überhaupt das ist was sie will. Das Theaterkollektiv mit dem sie arbeitet, fragt sich mittlerweile, ob die Beziehung zu Maya überhaupt noch trägt. Das Internet und die schnelle Kommunikation, sowie akute Anfälle von übertriebener politischer Korrektheit der Woken Generation tun das ihre. Dietrich Brüggemann beschreibt keine Gesellschaft, die wirklich in der Lage ist mit einer wirklich großen Krise fertig zu werden.
Materialermüdung ist eines der Bücher, die unter die Haut gehen, bei denen man oft lacht und bei denem einen oft das Lachen im Halse stecken bleibt, weil es trotz Überzeichnung sehr sehr nah an der Realität ist.
Unbedingt lesen!
Der Westendverlag hat den Autor Mathias Bröckers ein Gespräch mit Dietrich Brüggemann zu Materialermüdung führen lassen. Hier der Link.
Materialermüdung
Autor: Dietrich Brüggemann
Westendverlag
9-783949-671036
Preis: 25,00 €